«Manche haben geahnt, wer ich bin»

Der polnische Jude Bronislaw Erlich (99) aus Bern hat den Holocaust überlebt. Die Autorin Simone Müller hat ihn für ihr Buch «Bevor Erinnerung Geschichte wird» porträtiert. Ein Auszug.

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«Die Angst schaut aus den Augen»: Bronislaw Erlich. (Bild: Annette Boutellier)

Bronislaw Erlich hat die Pelzmütze mit den grossen Ohrenklappen schon lange nicht mehr getragen. Nun aber soll er im Freien auf einer Bank im Garten eines Stadt Berner Altersheimes fotografiert werden, und es ist November. Er betrachtet die Mütze von allen Seiten, stülpt sie probeweise über den Kopf, zieht sie ab, setzt sie erneut auf, lacht: «Jetzt sehe ich aus wie ein Russe.»

In seiner Biografie geht es um wahre und falsche Identität, um die Rolle, die er spielen musste, um zu überleben. 

Abhandengekommener Hass

Beim ersten Gespräch im Frühsommer 2019, leben Bronislaw Erlich und seine Frau Anna noch im Toffenholz, einer kleinen Siedlung im Grünen zwischen den Berner Vorortsgemeinden Toffen und Belp. Im Herbst 2019 ziehen sie zusammen ins Altersheim um; Anna Erlich stirbt kurz nach dem Umzug. Im Toffenholz hat sie noch von Oberschlesien erzählt, ein paar kurze, klare Sätze über ihre Kindheit im kleinen Dorf Münchhausen, über die Flucht ihrer Familie, als die russischen Truppen 1945 in Ostdeutschland vorrückten.

Anna Richter, die junge Deutsche, und Bronislaw Erlich, der polnische Jude, trafen sich dort, wo die Fronten aufeinanderstiessen, von Osten her die Sowjets, aus dem Westen die Amerikaner und die Engländer. Restaurant Kupferquelle in Ehringsdorf bei Weimar, eine Tanzveranstaltung am Samstagabend, alle Tische waren voll, an einem sass Anna Richter mit ihrer  Mutter, einer Tante und dem jüngeren Bruder, Bronislaw Erlich setzte sich dazu. So begann ihre Geschichte.

«Bevor Erinnerung Geschichte wird»

Die Menschen, die der Berner Autorin Simone Müller ihre Geschichte anvertraut haben, waren jung, als die Katastrophe des nationalsozialistischen Regimes in ihr Leben drang. Jetzt blicken sie im hohen Alter auf das unvorstellbare Grauen zurück, das sie durchgemacht haben – und das in manchem dem gleicht, was heute aus dem Kriegsgebiet der Ukraine zu uns dringt.

Erinnerungen werden gegen Ende des eigenen Lebens stärker, sagt Bronislaw Erlich. Wohl auch, weil über traumatischen Erfahrungen oft jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens liegt. Die Tabus brechen erst, wenn die Enkelgeneration nachfragt.

Genau darin liegt die Kraft, die sich in den 15 Porträttexten von Simone Müller und den Bildern der Fotografin Annette Boutellier entfalten. Erlichs Erinnerung ist Teil davon, die «Hauptstadt» gibt ihn hier in einer gekürzten Version wieder.

Am Donnerstag, 27. Oktober, ab 18 Uhr findet im Kunstmuseum Bern die Berner Vernissage zum Buch «Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute» (Limmat Verlag, 250 Seiten) statt. Der Eintritt ist frei, die Platzzahl beschränkt. Anmeldung hier. (jsz)

Während des Krieges, sagt Bronislaw Erlich, habe er die Täter gehasst «wie die Pest. Aber als die ersten amerikanischen Panzer in unser Dorf einrollten, da ist mir der ganze Hass irgendwie  abhandengekommen.» Das Einzige, was er fühlte, als er befreit wurde, war eine unbändige  Freude: «Ich lebe!»

Kurz darauf sammelte er weggeworfene Lebensmittel der Amerikaner ein und verteilte sie an deutsche Frauen, die im Dreck nach Essensresten wühlten. «Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit», sagt Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. Beschreibt der Satz, was er damals erlebt hat? Bronislaw Erlich nickt, schweigt.

Ausgelöschte Welt

Der Erinnerungsstrang führt weit zurück, in die Küche des Schneidermeisters Nachum  Erlich und seiner Frau Brandel, Nalewki-Strasse 34, Warschau. Zwei Nähmaschinen standen auf dem Küchentisch: «Hier wurde der Stoff zugeschnitten, genäht, gebügelt.» In der Vierzimmerwohnung führte ein Raum in den nächsten, ständig herrschte  Betrieb. Vier Kinder gehörten zur Familie, Bracha, geboren 1917, Mosche, 1920, Bronislaw, 1923 und Jakob, 1927.

Die Alltagskultur des osteuropäischen Judentums, die Bronislaw Erlichs frühe Lebensjahre geprägt hatte, verschwand mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg beinahe vollständig: «Nach 1945 war diese Welt wie ausgelöscht.»

Eine Erinnerung, für die er kaum je nach Worten gesucht hat, verändert jetzt, da er es trotzdem tut, die Stimme, seinen Blick. Wortlos starrt er einen Moment lang vor sich hin. Warschau, Herbst 1939. Ein kleiner Lastwagen, auf der Ladefläche stapeln sich Leichen, zum Abtransport bereit. Zuoberst liegt ein kleiner  Körper, eine Kinderleiche. Das Kind hat keinen  Kopf mehr, aber eingeklemmt zwischen Arm und Oberkörper trägt es noch immer seine Puppe. Später im Gespräch sagt Bronislaw Erlich: «Man wird nicht als Bestie geboren, man wird zur Bestie gemacht.»

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Bronislaw Erlich hat auch darum überlebt, weil er sein Geburtsdatum fälschte. (Bild: Annette Boutellier)

Als Erster ging Mosche, der ältere Bruder. Er floh nach Osten, in den sowjetisch besetzten Teil von Polen. In der Nacht hörte Bronislaw die Mutter weinen. Am 2. Dezember 1939 flüchteten auch Bronislaw, 16, und seine Schwester Bracha. Ein Nachbar brachte sie mit seinem Fuhrwerk zum Bahnhof Warschau Ost. Sie sassen schon im Zug, als plötzlich dieses Gebrüll ertönte. Ein deutscher Soldat riss das Maul weit auf: «Juden raus!» Bracha und Bronislaw blieben reglos sitzen, bis der Zug abfuhr. Auch die Mutter setzte sich in Bewegung, rannte, «wurde langsamer», verschwand ganz.

Nachts, in seinem Zimmer im Altersheim, liegt Bronislaw Erlich jetzt oft wach. Er sieht die Mutter vor sich, ihre Gestalt auf dem Bahnsteig. Brandel Erlich, die nicht winkte, weil sie die Aufmerksamkeit der Gestapo nicht auf ihre Kinder lenken wollte. Es war das letzte Mal, dass er sie sah.

In Malkinia, einer Grenzstation zwischen dem vom deutschen Reich und dem von den Sowjets besetzten Teil von Polen, übernachteten die Geschwister bei einem Bauern, gingen in der frühen Morgendämmerung zu Fuss über die Grenze und fuhren  mit dem Zug über Bialystok bis in die Stadt Waukawysk. 

Freigestellter Knecht

Am 22. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht  in die Sowjetunion ein, am 28. Juni stiessen die Truppen nach Waukawysk vor. Für Bronislaw drehte sich das Rad zurück, wieder begann ein Leben unter deutsche Besatzung. Er verlor die Arbeit im Kindergarten, die Abendschule schloss. Fünfzehn Monate lang arbeitete er als Knecht auf dem Hof von Bauer Karol Urbanowicz. Im November 1942 wurde die jüdische Bevölkerung von Waukawysk auf dem Gelände der ehemaligen Kavalleriekaserne zusammengetrieben. Die Verordnung  der deutschen Besatzer war unmissverständlich: Wer jetzt noch einen Juden versteckt, wird zusammen mit diesem erschossen. Karol Urbanowicz stellte seinen Knecht frei.

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«Ein Mensch in Todesgefahr ist kein Held»: Bronislaw Erlich. (Bild: Annette Boutellier)

«Wie Tiere in ein Erdloch», sagt Bronislaw Erlich, seien Männer, Frauen und Kinder in einer Art Grube zusammengepfercht worden, acht Meter breit, 25 Meter lang, darüber ein Holzdach. Als ein Soldat auf der anderen  Seite des Stacheldrahtes durch  den Zaun hindurch  nach Freiwilligen schrie für einen Arbeitseinsatz ausserhalb des Lagers, meldete er sich sofort. Er wusste nicht, worum es ging, dass «Arbeit» bedeutete, die Kleider der deportierten Jüdinnen und Juden zu sortieren. Hier gerät die Erzählung ins Stocken, bei den Anzügen, Röcken, Hosen, Blusen, Hemden, Schuhen der Jüdinnen und Juden  von Waukawysk.

Veränderte Geburtsurkunde

Die Männer der Arbeitskolonne sammelten die Kleider in den Wohnungen  ein und verluden sie auf Pferdewagen, für die deutsche Winterhilfe. Bronislaw Erlich schweigt, sagt: «Ein Mensch in Todesgefahr ist kein Held, er macht einfach alles, um zu überleben.» Wenn er etwas zu essen fand in den Speiskammern der Deportierten, dann nahm er es mit. Er zog neue Schuhe an und Hosen, eine warme Jacke aus Schafspelz

Die Männer der Arbeitskolonne wurden abends ins Gefängnis gebracht, die Bewachung tagsüber war weniger streng als im Lager. Der Zufall wollte es, dass Bronislaw eines Nachmittages auf den Schwager von Bauer Karol Urbanowicz stiess, einen Rechtsanwalt, der ihn zu sich nach Hause einlud. Der Anwalt durchsuchte seine Akten, fand: die Geburtsurkunde einer Frau, Bronislawa Karkos, geboren 1912. Bronislaw, der sich mit Grafik auskannte, wusste, wie man mit einer Rasierklinge ein «a» wegkratzte, ohne dass es auffiel. Wie man aus Bronislawa Bronislaw machte, und «1920» aus «1912» – sein tatsächliches Geburtsjahr 1923 wäre schwieriger gewesen.

Eine falsche Geburtsurkunde, eine neue Identität, Bronislaw beschloss zu fliehen. Kurz bevor der Wachmann  kam, um ihn für die Nacht ins Gefängnis zu bringen, versteckte er sich. Als es dunkel war, marschierte er los.

Gefährliche Angst

Im Frühsommer 2019 erzählt er fast drei Stunden lang ohne Unterbrechung. Müde? «Nein.» Überleben, auch das war ein ungeheurer Kraftakt. Forderte in jedem Augenblick ein Höchstmass an Aufmerksamkeit. Ein einziges jiddisches Wort in einem deutschen Satz und alles wäre aufgeflogen.

Einmal zeigte ihm ein Pole, der in der gleichen Gegend arbeitete, den Brief eines Kollegen. Der Kollege schrieb vom Wetter und dass ein jüdischer Kriegsgefangener verraten und von der Gestapo geholt worden sei. Der Pole, sagt Bronislaw Erlich, habe ihn warnen wollen: «Manche haben geahnt, wer ich bin.» Angst? Hat er sich nicht zugestanden. «Die Angst schaut aus den Augen. Wenn man Angst hat, wird man erkannt.»

Bis heute treibt  ihn die Frage nach dem Schicksal seiner Familie um, nachts, wenn er wach liegt im Altersheim. Was haben die Eltern erlebt, und Jakob, der kleine Bruder? Wann sind sie umgekommen, und wie? Fragen ohne Antworten, die nichts an Dringlichkeit verloren haben. Bronislaw Erlich vermutet, dass die Eltern und der Bruder im Sommer 1942 ins Konzentrationslager Treblinka deportiert wurden.

In seinem Pass steht bis heute der falsche Geburtstag und das falsche Geburtsjahr, 1920 statt 1923. Den Namen hatte er ändern lassen, warum das Geburtsjahr vergessen wurde, weiss er nicht so genau, wahrscheinlich, «weil es damals andere Probleme gab. Und als ich jung war, da kümmerte mich das auch nicht.» Einmal  an einem 14. Juli kam der Gemeindepräsident seiner früheren Wohngemeinde Belp mit einem Blumenstrauss und gratulierte zum runden Geburtstag — am falschen Tag und drei Jahre  zu früh. «Wir lachten und tranken zusammen Wodka.»

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